Der Derwisch und der Elefant
Ein junger Derwisch wanderte durch die Straßen und war ganz aus dem Häuschen ob der erhabenen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen: Dank seines Meisters hatte er seit kurzem verstanden, dass er in seiner Essenz mit dem Ganzen eins war, mit dem also, was wir gewöhnlich „Gott“ nennen. Während er in tiefe Meditation darüber versunken war, dass er Gott war und auch alle anderen Wesen Gott waren, kam ein riesiger Elefant im Laufschritt auf ihn zu. Das Tier war schon gefährlich nahe. Obwohl der Elefantenführer ihm zurief, er solle sich in Sicherheit bringen, blieb der Derwisch stehen wie ein Holzklotz, weil er so tief in Meditation versunken war.
Der Elefantenführer schrie erneut:
„Dummkopf! Geh zur Seite! Verschwinde da! Hau ab! Mach endlich, dass du wegkommst, du Irrer!“
Aber der junge Mann blieb unbeweglich stehen und dachte euphorisch:
„Wo soll das Problem sein? Ich bin Gott, alle Dinge sind Gott, dann ist auch der Elefant Gott. Und Gott soll vor Gott erschrecken? Das ist ja lächerlich!
Gott soll sich vor Gott in Sicherheit bringen? Was für ein Unsinn!“
Der Tropf konnte seinen erhabenen Gedankengang nicht zu Ende bringen, denn der Elefant hatte ihn bereits mit seinem Rüssel gepackt und hoch in die Luft geschleudert.
Als er unsanft wieder auf dem Boden landete, stand ihm der Mund offen, so wenig konnte er glauben, was ihm eben passiert war. Und so nahm er sich nicht einmal Zeit, den Staub von seinem Gewand zu klopfen, und lief sofort zu seinem Meister, um ihn um Aufklärung zu bitten.
Er erzählte ihm alles und fragte dann: „Meister, hast du nicht gesagt, ich sei Gott?“
„Natürlich habe ich gesagt, dass du Gott bist“, antwortete der Meister.
„Und hast du nicht auch gesagt, dass auch alle anderen Dinge Gott sind?“, fragte der Schüler wieder.
„Es stimmt. Genau das habe ich gesagt: Alle Dinge sind Gott!“
„Wie, dann war der Elefant also auch Gott?“
„Genau. Der Elefant war Gott. Aber warum hast du nicht auf die Stimme Gottes gehört, die dir vom Rücken des Elefanten aus zurief, dass du abhauen sollst?“
Gianluca Magi,
Der verborgene Schatz - Weisheitsgeschichten der Sufis,
Kailash, 1. Aufl. 2009 Seite144/145